VPAT Voluntary Product Accessibility Template

Die Amerikaner sind uns in vielen Dingen ein paar Schritte voraus, so auch in der Barrierefreiheit. Dort gibt es Section 508, eine Beschaffungsverordnung für die Bundesbehörden. Die Verordnung macht Behördenleiter dafür verantwortlich, Informationstechnik in barrierefreier Ausfertigung einzukaufen. Der Effekt ist unglaublich: Sogar deutsche Softwarehersteller geben VPATs heraus, die freiwillige Selbstauskunft über die Barrierefreiheit ihrer Produkte. Das VPAT ist die Eintrittskarte in den amerikanischen Softwaremarkt.

Von Section 508 haben wir bisher vor allem in Bezug auf Websites gehört, wenn blinde Internetnutzer ihr Recht auf barrierefreie Information vor amerikanischen Gerichten einklagten. In dieser Hinsicht ist Section 508 mit der deutschen BITV vergleichbar. Aber die amerikanische Richtlinie geht weiter. Sie bezieht sich nicht nur auf die öffentliche Kommunikation, sondern auf die gesamte in Behörden eingesetzte Informationstechnik, Computer, Software, Fotokopierer und Telekommunikationsanlagen. Alles muss für Menschen mit Behinderungen benutzbar sein.

Die Verordnung ist im technischen Teil relativ simpel. Die Richtlinie für barrierefreie Websites ist in 16 Regeln unterteilt, die Richtlinie für barrierefreie Software kommt mit 12 Regeln aus. Kein Vergleich mit den 65 Regeln der BITV oder dem Geflecht technischer Dokumente hinter WCAG 2.0. Ein Testverfahren ist nicht hinterlegt, der Beurteilungsmaßstab liegt ganz im Ermessen des Anwenders.

Wer wendet die Richtlinie an? Die Amerikaner haben es hingekriegt, dass die Softwarehersteller selber sich mit der Barrierefreiheit ihrer Produkte auseinandersetzen. Der Hebel dafür sind die VPATs, freiwillige Selbstauskunft der Hersteller über die Konformität ihrer Produkte mit Section 508. Die VPATs sind eine standardisierte Mustervorlage, einfach aufgebaut und mit einem schmalen Satz an guten Beispielen als einziger Handreichung ausgestattet. Auf dieses Verfahren haben sich Regierungsbehörden und Industrie geeinigt. Die Hersteller geben VPATs für ihre Produkte heraus, und geben damit den Behörden vergleichbare Daten zur Barrierefreiheit an die Hand. Section 508 verpflichtet die Behörden, im Beschaffungsverfahren eine Marktübersicht zu machen und unter den in Frage kommenden Produkten dasjenige auszuwählen, das die beste Accessibility vorweisen kann.

Und das funktioniert? Als deutscher Normenanhänger mag man es kaum glauben. Niemand stellt sicher, dass die Selbstauskünfte wirklich vergleichbar sind. Kann man überhaupt davon ausgehen, dass eine ernsthafte Bewertung stattfindet? Der potentielle Kunde kann ja die Plausibilität der Angaben nicht beurteilen. Dennoch erfährt man nicht viel über Konflikte im Zusammenhang mit VPATs. Noch kein Hersteller musste sich vor Gericht wegen irreführender Selbstauskunft verantworten. Dabei sind die VPATs schon eine Weile auf dem Markt. Sie wurden im Jahr 2001 eingeführt, 3 Jahre nach dem Erlass von Section 508, als Maßnahme gegen die bis dahin schleppende Umsetzung der Verordnung. Seitdem ist der Zug ins Rollen gekommen und hat inzwischen so viel kritische Masse erzeugt, dass die Nachfrage nach VPATs bis nach Deutschland herüberschwappt.

Wer sich als deutscher Accessibility-Tester mit VPATs auseinandersetzen muss, ist auf sich selber angewiesen. Was haben wir an Ressourcen? Für Websites haben wir den BITV-Test und sind damit auf der sicheren Seite. Für Software gibt es die IBM-Checkliste, die aber bei weitem nicht so detailliert ausgearbeitet ist wie der BITV-Test. Foren und Mailinglisten, die sich mit Software-Accessibility auseinandersetzen, gibt es nicht. Man braucht schon die Erfahrung eines Testlabors, und natürlich geläufigen Umgang mit Screenreader und Vergrößerungssoftware, um ein VPAT mit gutem Gewissen ausfüllen zu können.  << Werbeeinblendung: Bei bit.informationsdesign haben wir das. Wir machen VPATs für Software. >>

Auch bei ordentlichem Test bleibt noch eine Menge Freiraum für taktisches Verhalten. Wer zieht die Grenze für das Gesamturteil “nicht erfüllt” und “teilweise erfüllt”? Ãœblicherweise versprechen die Hersteller, die vorgefundenen Mängel bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auszubessern. Sie müssten also eigentlich die Accessibility in ihre reguläre Qualitätssicherung aufnehmen, und dürften es nicht bei punktuellen Tests belassen. Fest etabliert ist so ein Verfahren bei den Allerwenigsten.

Was geschieht mit den ausgefüllten VPATs? Der Software-Hersteller legt sie seinen Angeboten bei, oder gibt sie in die Datenbank für barrierefreie Produkte bei der GSA, der amerikanischen Zentralverwaltung der Bundesbehörden. Einige Hersteller wie Microsoft und Adobe haben ihre VPATs im Internet veröffentlicht. Nun sollte also die Konkurrenz auf dem Markt dafür sorgen, dass die Produkte mit der besten Accessibility gekauft werden und infolge dessen die Produkte immer besser zugänglich werden. Ich sehe aber keine öffentliche Diskussion zu diesem Thema - wenn überhaupt, findet die Prüfung der VPATs hinter den verschlossenen Türen der Behörden statt. Öffentlichkeit wäre aber sicher hilfreich, damit die Software-Hersteller am Ball bleiben. Da hätten wir noch ein unbesetztes Feld für die Behindertenverbände.

In der EU gibt es nun ebenfalls Pläne zur Regelung der Barrierefreiheit bei Beschaffungen im öffentlichen Dienst. Wie man hört, drängen die Amerikaner darauf, dass die Europäer sich ihrem Verfahren anschließen. Dafür müssen sie aber noch etwas Ãœberzeugungsarbeit leisten. Unser Arbeitsminister Olaf Scholz sagte auf dem AbI-Kongress sinngemäß: “Die Amerikaner machen es sich zu einfach. Im Gesetz schreiben sie nicht viel mehr als den Satz ‘Accessibility ist Pflicht’, und alles weitere überlassen sie den Gerichten. Wir dagegen wollen Rechtssicherheit.” Die EU hat also erstmal die Standardisierungsgremien beauftragt, ein ordentliches Prüfverfahren für Barrierefreiheit vorzuschlagen. Das war im Jahr 2005, und inzwischen ist auch ein Bericht entstanden, der immerhin eine Klassifizierung der in Europa bisher etablierten Prüfverfahren enthält. Die Amerikaner sind auf ihre Art schneller, das muss der Neid ihnen lassen.

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