Barrierefreie Web-Anwendungen – erste Ahnungen

Noch nichts Neues zur Barrierefreiheit, jedenfalls nichts Fertiges, das man nutzen könnte. Wir sind noch nicht so weit. Die größte Enttäuschung dieses Jahres war die Fachtagung von Einfach für Alle, bei der sich die Barrierefrei-Szene in toller Stimmung feierte – und dann wurde lange Zeit nichts davon veröffentlicht. Eine breit angelegte Studie zur Internetnutzung von Menschen mit Behinderungen wurde vorgestellt, aber nicht in Schriftform ausgearbeitet. 16 teils wegweisende Workshops wurden per Videostreaming ins Internet gesendet, aber nicht dauerhaft eingestellt. Jetzt endlich findet sich wenigstens eine thesenartige Tagungsdokumentation im Internet.

In diesen Tagen erreicht uns die Nachricht, dass die Preisverleihung der BIENE auf Ende Januar verschoben werden muss – zu komplex sind die eingereichten Web 2.0-Anwendungen, das neue Testverfahren braucht mehr Zeit als erwartet.

Wenn das so ist - dann ist es auch für mich noch nicht zu spät, die Tagungsnotizen dieses Jahres zusammenzufassen. Meine persönliche Suche nach dem barrierefreien Web 2.0.

Die Tagungssaison des Frühjahrs 2008 begann mit dem AbI-Kongress, dessen Motto “Die Zukunft des Internet ist barrierefrei” damals noch recht trotzig klang. Doch es gab ein paar Highlights, die mich an die Botschaft glauben ließen.

Zu allererst war da der Bericht von SAP über die Entwicklung eines neuen barrierefreien Frameworks für Web-Anwendungen. SAP hatte ja in der Vergangenheit mehr guten Willen als Ergebnisse in puncto Barrierefreiheit gezeigt. Inzwischen gibt es eine Firmenpolitik, die die Barrierefreiheit von Anfang an in den Entwicklungsprozess integrieren will. Umgesetzt wurde die Strategie mit dem neuen SAP-CRM-System. Da wurde die Gunst der Stunde genutzt, dass für die neue Web-Anwendung nicht viel Passendes im Kasten war. Mutig wurde tabula rasa gemacht und ganz von vorne angefangen. Hut ab! Der neue barrierefreie Baukasten enthält Gestaltungselemente, die ich gerne genauer gesehen hätte. Da gibt es einen eigenen Modus für Screenreader – warum ist das nötig? Meiner Neugier kann ich jetzt nachgehen, die Vortragsfolien stehen endlich im Internet.

Welche Hürden dagegen zu überwinden sind, wenn man eine vorhandene Anwendung auf barrierefrei trimmen will, konnte man dem Bericht über die Durchführung der EfA-Studie entnehmen. Auf der Suche nach einem Fragebogen-Tool, mit dem die gewünschte barrierefreie Online-Umfrage erzeugt werden konnte, fanden die Marktforscher nur untaugliche Alternativen vor. Am Ende mussten sie alle Ausgaben manuell nachbearbeiten und hatten den 10-fachen Aufwand, verglichen mit einer sonst üblichen Online-Umfrage. Wenn Barrierefreiheit so teuer ist, schreckt das natürlich ab. Die Erstellung barrierefreier Frameworks ist da der einzig richtige Weg.

Dynamische Web-Anwendungen sind um ein vielfaches komplexer als einfache Webseiten. Für die barrierefreie Gestaltung gibt es die WAI-ARIA-Richtlinie, die erstaunlich schnell die Formalien des W3C durchlaufen hat und kurz vor der Verabschiedung steht. IBM und Mozilla haben die Entwicklung vorangetrieben und den neuen Standard im Webbrowser Firefox implementiert. Der Screenreader Jaws zieht mit. Man kann also heute schon barrierefreie Web-Anwendungen entwickeln und in geschlossenen Nutzergruppen mit Firefox und Jaws für Blinde zugänglich machen. Marco Zehe, langjähriger Mitarbeiter des Jaws-Herstellers Freedom Scientific, ist kürzlich zu Mozilla gewechselt und stellte die neue Entwicklung auf der EfA-Tagung vor.

Damit ist der Teufelskreis wohl durchbrochen, den Gottfried Zimmermann in seinem Vortrag über das Internet der Zukunft beschwor: die Rückkopplung zwischen schlechten Nutzungsgewohnheiten und unzureichendem Stand der Technik, der die Barrierefreiheit im Internet am Boden hält. Wenn Browser und Screenreader es erlauben, ist der Weg für barrierefreie Web-Anwendungen frei. Nachzügler ist wie immer der Internet Explorer. Aber im Prinzip kann die Accessibility-Szene sich jetzt daran machen, die Technik auszuprobieren und gute Beispiele auszuarbeiten.

Dasselbe gilt für Javascript. Die Unterstützung der Screenreader für Javascript und AJAX ist in den letzten Jahren immer besser geworden. WCAG 2.0, die Neufassung der internationalen Richtlinie für barrierefreie Webinhalte, verlangt schon gar nicht mehr, dass Webseiten auch ohne Javascript funktionieren, oder dass unbedingt eine Fall-Back-Version in HTML bereitgehalten werden muss. Die Richtlinie verlangt aber, dass alle im Internet eingesetzten Techniken mit Hilfsmitteln für Behinderte funktionieren müssen, und entsprechend getestet sein müssen. Das ist ein Paradigmenwechsel, der die Entwicklung von barrierefreien Web-Anwendungen auf neue Füße stellt. In der Accessibility-Szene wird aber immer noch der Begriff “barrierefreies Javascript” mit “unobtrusive Javascript” gleichgesetzt, der großen Kunst der unaufdringlichen Einbindung von Javascript, in der die Fall-Back-Lösungen perfektioniert werden. Wer gezweifelt hat, ob komplexe Web-Anwendungen jemals barrierefrei gemacht werden können, hat jetzt eine Antwort: direkt ohne Umwege mit Javascript und WAI-ARIA. Die ersten Beispiele in diese Richtung sind in der Yahoo YUI-Bibliothek zu bestaunen. Näheres in meinem Vortrag “Barrierefreies Javascript” beim Webkongress Erlangen.

Da hat sich also doch eine ganze Menge Neues getan - aber weit im Hintergrund auf der Ebene der Techniken und Richtlinien. Kein Wunder, dass die Szene so still geworden ist. Man arbeitet, und weiß noch nicht so genau, wo der Weg lang geht. Erst in 10 Jahren, so eine These der blinden Accessibility-Beraterin Anna Courtpozanis, wird die Barrierefreiheit im Internet selbstverständlich sein.

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