Standardkonform? - Kann ich nicht mehr hören!
Der entnervte Kommentar von Beatrix Jost bei unserem gemeinsamen Auftritt in der Handelskammer Hamburg machte mir klar, dass neue Zeiten in der Bewertung von barrierefreiem Webdesign angebrochen sind. Sie war die erste, die im November 2006 die klassische Argumentationskette “barrierefrei - standardkonform - Design for All - kostenneutral” in Frage stellte. Stimmt, einige Koryphäen der Barrierefrei-Szene haben es immer schon gesagt: “Barrierefreiheit ist für Behinderte und sonst gar nichts”. Gerade in diesen Tagen läuft ein Accessibility-Blog bei MAIN mit diesem Tenor. Ich will mich da nicht einreihen, sondern noch einmal eine Lanze für Design for All brechen.
 Beatrix Jost ist Productmanagerin bei der NetBank und dort für die Barrierefreiheit des Internetauftritts zuständig. Auf die Nerven gehen ihr Angebote von Internetagenturen, die ihre Produkte “standardkonform, also weitgehend barrierefrei” nennen. Ärgerlich, wenn die Entwicklungsabteilung sich von der Sprachregelung hinters Licht führen lässt und den minderwertigen Kram kauft. Man kann wenig dagegen tun, der Markt gibt kaum etwas Besseres her. Es gibt zwar Agenturen, die die Barrierefreiheit beherrschen, aber denen fehlt dann irgendein anderes Ding in ihrem Leistungskatalog. Die großen, voll sortierten Agenturen spielen fast alle das Spiel mit dem Etikettenschwindel. Wenn dann das neue Feature implementiert ist, macht Beatrix die Qualitätskontrolle und stellt fest, dass grundlegende Eigenschaften fehlen. Dann folgt ein langer Kleinkrieg, in dem sie versuchen muss, ihre Forderungen noch in der Phase der Leistungsabnahme durchzusetzen. Wenn sie Pech hat, kostet es extra. Beatrix Jost ist hochgradig sehbehinderte Screenreader-Nutzerin, ihre Anforderungen sind nicht exotisch. Sie verlangt nichts weiter, als dass die BITV eingehalten wird.
Was fehlt, wenn eine Internetseite “standardkonform” und nicht “barrierefrei” genannt wird? Wenn man Pech hat, fehlt fast alles. Der Begriff “standardkonform” bezieht sich auf die Einhaltung der Webstandards HTML und CSS, aber er ist nicht gesetzlich geschützt. Es gibt Agenturen, die genehmigen sich ein Gütesiegel “standardkonform”, sobald sie den Trick mit dem CSS-Layout drauf haben. Das ist, wenn das Layout einer Internetseite in CSS-Dateien ausgelagert wird und nicht wie früher direkt in der HTML-Seite in Form von Tabellen und Abstandshalter-Grafiken eingebaut ist. “Tabellenfreies Layout” galt lange Zeit als Inbegriff von Barrierefreiheit. Die Barrierefrei-Szene hat das selber so propagiert und trägt darum eine Mitschuld, wenn der Markt heute über diesen Stand nicht hinaus kommt. Dabei ist das tabellenfreie Layout nur ein Punkt unter vielen, und nicht einmal ein unabdingbarer. In der BITV steht: “Wenn Du Tabellen für Layout verwendest, achte darauf, dass die Inhalte bei linearer Darstellung verständlich sind.” Ein Hauptpunkt der BITV ist korrektes HTML, und dazu werden neben Tabellen noch viele andere Formen angesprochen: Ãœberschriften, Absätze, Listen, Formularfelder, Zitate. Die Inhalte sind sinngerecht mit den entsprechenden HTML-Elementen auszuzeichnen, das ist “semantisches Markup”, der Kern von korrektem HTML. Wenn eine Internetseite ohne Layouttabellen auskommt, aber ansonsten die semantische Auszeichnung der Inhalte fehlt, dann ist die Bezeichnung “standardkonform” hierfür ein Etikettenschwindel.
Standardkonformes semantisches Markup ist eine wichtige Basis für Barrierefreiheit, aber es ist noch nicht alles. Dazu kommen die Gestaltungsregeln für verschiedene Endgeräte: Linearisierbarkeit, Skalierbarkeit, Tastaturbedienbarkeit. Dann die Textäquivalente: Alternativtexte für Bilder, Mitschriften von Podcasts, Untertitel für Videos. Die Regeln für Orientierung in der Website, für einfaches Verständnis der Inhalte, Auszeichnung von Fremdsprachen. Diese Gestaltungsregeln als “behindertengerecht” zu bezeichnen, finde ich zu eng gegriffen. Klar, es gibt Punkte, in denen man das Verhalten eines einzelnen Screenreaders berücksichtigen muss. Beispiel: Wenn man Sprungmarken für sehende Nutzer verstecken will, darf man dafür nicht den CSS-Ausdruck “display:none” verwenden, das funktioniert nicht in Jaws. An sich erwarten wir aber, dass solche Eigenarten ein Ãœbergangsstadium sind und die Screenreader sich auf einen gemeinsamen Standard hin entwickeln. Wir erwarten sogar, dass wir Verfahren entwickeln können, die sich generell für Sprachausgaben eignen, z.B. auch für den Bordcomputer im Auto. Websites in jeder Umgebung und mit verschiedensten Nutzeranforderungen anzeigen zu können, das ist das Ziel der Gestaltungsregeln für barrierefreies Webdesign.
Stimmt, die BITV bezieht sich auf das Behindertengleichstellungsgesetz. Menschen mit Behinderungen sind die primäre Zielgruppe von Barrierefreiem Webdesign. Nur die Behindertenverbände haben ein Klagerecht auf Einhaltung der BITV. Was bedeutet das praktisch? Ganz klar, wir müssen die Bedürfnisse von Behinderten in den Mittelpunkt unserer Bemühungen stellen. Sollten wir, wie Jan Hellbusch vorschlägt, die Ãœberschriftenstruktur einer Internetseite auf die Tastaturshortcuts real existierender Screenreader ausrichten? Alle Navigationsbereiche auf <h6>? Ich bin skeptisch, dass sich so eine Regel kommunizieren lässt. Lieber wäre mir, wir fänden etwas Logisches, Allgemeingültiges. So wie der Kant’sche Imperativ: Handle so, dass das Prinzip Deiner Handlung ein allgemeines Gesetz sein könnte. Gestalte so, dass Deine Strukturen von jedermann verstanden werden können. Ich suche nach Design for All.
Die Barrierefreiheit hat ihre Rolle als Innovationstreiber in der Webentwicklung verloren, der neue Leitbegriff heißt Web 2.0. Verständlich, wenn die Behinderten sich wieder mehr auf die eigene Position besinnen. Gut, wenn neue behindertengerechte Lösungen ausprobiert werden. Mein Interesse als Webdesigner ist aber, Lösungen für möglichst breite Zielgruppen zu finden. Qualitätsmaßstäbe, die ich auch dem mittelständischen Unternehmer verkaufen kann. Ich bin sicher, dass das auch für die Behinderten gut ist. Denn am Ende wollen die Behinderten ja nicht nur ihre eigenen Websites lesen, die extra für sie gemacht sind. Sie wollen, dass möglichst viele lesbare Websites entstehen.
Referenzen
- Beatrix Jost in: Veranstaltungsrückblick der Handelskammer Hamburg
www.hk24.de/servicemarken/branchen/medienitdesign/veranstaltungen_ wettbewerbe/medien_it_veranstaltungen_wettbewerbe/va_rueckblick_bafi.jsp - Main_blog Accessibility Parade
www.mainweb.at/blog - Jan Eric Hellbusch: Sinn für Barrierefreiheit
www.mainweb.at/blog/2007/10/10/sinn-fuer-barrierefreiheit/ - Jan Eric Hellbusch: Strukturelle Navigation: Beispiel der Gebrauchstauglichkeit
www.mainweb.at/blog/2007/10/31/strukturelle-navigation-beispiel-der-gebrauchstauglichkeit/ - Einfach für Alle: Wi(e)der die Begriffspiraterie
www.einfach-fuer-alle.de/blog/eintraege.php?id=2263_0_1_0_C#comment_2371 - Brigitte Bornemann-Jeske: Barrierefreies Webdesign zwischen Webstandards und Universellem Design, in: IWP 8/2005
www.bit-informationsdesign.de/iwp-8-2005/ - Brigitte Bornemann-Jeske: Layouttabellen, in: bit.infobrief Nr. 9
www.bit-informationsdesign.de/infobrief/infobrief504.html#teil3
Am 8. November 2007 um 12:46 Uhr
Klasse Artikel! Das Blog habe ich mir gleich mal abonniert.
Streng genommen ist der Begriff des “Semantic Markup” eigentlich in der Standardkonformität enthalten. In den Spezifikationen steht schließlich drin, für welchen Zweck die einzelnen Elemente gedacht sind. In der Praxis wird Standardkonformität leider viel zu oft gleichgesetzt mit “validiert im w3c-Validator. Dieser kann aber leider nur eine syntaktische Validität prüfen, nicht aber eine semantische Validität.
Wenn man nun Standardkonformität tatsächlich unter beiden Gesichtspunkten betrachten würde (und die Spezifikationen des Standards geben das ja durchaus her), dann würde man mit Standardkonformität tatsächlich eine solide Grundlage für Barrierefreiheit erstellen und zu einem guten Teil bereits realisieren. Aber genau hier hakt es in der Praxis. In der Praxis wird Webdesign gleichgesetzt mit Screen Design und auf den visuellen Aspekt reduziert. Dabei wird dann gutes Webdesign konsequenterweise gleichgesetzt mit der Beherrschung von “Tricks” (also Vergewaltigungen der Spezifikationen), um auch ausgefallene visuelle Effekte zu realisieren. Solch eine Seite mag syntaktisch korrekt sein (ist also in diesem einen Aspekt standardkonform), aber deswegen noch lange nicht barrierefrei (vermutlich eher im Gegenteil). Daran ändert dann auch Nichts eine Auslagerung der Stile in eine externe css-Datei.
Am 8. November 2007 um 13:39 Uhr
Hallo Brigitte,
du schreibst am Beginn deines Beitrags: “Gerade in diesen Tagen läuft ein Accessibility-Blog bei MAIN mit diesem Tenor”. Das ist so nicht richtig, daher ein paar Anmerkungen dazu:
Das MAIN_blog fungiert gemeinsam mit Nur ein Blog von Robert Lender als Veranstalterin der Accessibility Blog Parade 2007. In dieses vernetzte Webereignis sind zahlreiche Bloggerinnen und Blogger aus dem deutschsprachigen Raum eingestiegen, und zwar mit vielen spannenden, informativen Beiträgen, die höchst unterschiedliche Sichtweisen und Aspekte zur Web Accessibility beleuchten.
Jan Eric Hellbusch wurde von uns als einer von mehreren hoch kompetenten GastautorInnen eingeladen, sich im MAIN_blog an der Parade zu beteiligen. Er vertritt hier seine Standpunkte zur Frage: Was bedeutet Barrierefreiheit im Internet?. Andere AutorInnen haben andere Zugänge zu dieser wirklich komplexen Thematik.
Gerade diese Vielfalt der inhaltlichen Positionen erscheint uns als VeranstalterInnen der Accessibilty Blog Parade interessant. Denn die Aktion lebt von der Kommunikation, vom offenen Erfahrungsaustausch und dem gleichberechtigten Dialog über Barrieren im Netz.
Wir von MAIN wollen also keinesweg irgendeinen “Tenor” vorgeben, sondern verstehen uns als Plattform für vielfältige Denkanstöße zum Abbau von Barrieren in der Kommunikation. Einer davon ist dieser Beitrag hier im bit.blog.
Am 8. November 2007 um 17:09 Uhr
Zitat:
“Wenn man Sprungmarken für sehende Nutzer verstecken will, darf man dafür nicht den CSS-Ausdruck “display:none†verwenden, das funktioniert nicht in Jaws.”
Ergänzung: Schlecht auch für Nutzer von mobilen Geräten wie MobilePhone (Handy) oder PDA.
Zitat:
“Sollten wir, wie Jan Hellbusch vorschlägt, die Ãœberschriftenstruktur einer Internetseite auf die Tastaturshortcuts real existierender Screenreader ausrichten?”
Solange die Browser sich daran nicht halten eine einheitliche Linie hierfür zu finden, ist dieser Vorschlag nicht zuhalten. Diana Ruth hat eine schöne Studie hierrüber geschrieben. Sehr lesenswert.
Zitat:
“Denn am Ende wollen die Behinderten ja nicht nur ihre eigenen Websites lesen, die extra für sie gemacht sind.”
In einer Diskussionrunde mit den Machern von Lebenhilfe-Angesagt.de kam ans Tageslicht, das Behinderte sich genauso wie wir an aktuellen Themen interessiert sind. Erstaunlicherweise nehmen sie dafür sogar einige Hürden in Kauf.
Aber insgesamt möchte ich sagen, das eine zugängliche Webseite für alle Menschen Vorteile hat und nicht nur für eine möglichst breite Zielgruppe. Allerdings stelle ich gleich noch hinten an, das jeder Mensch Barrieren unterschiedlich sieht, abhängig von der Art seine Behinderung. Deshalb denke ich, ist es wirklich sehr schwierig, eine Webseite zu erstellen die allen gerecht wird.
Am 10. März 2011 um 15:43 Uhr
“Standardkonform” kann ich auch nicht mehr hören. Bei der Gestaltung einer Webseite muss man heute auf so viele Faktoren wert legen. Sogar für mobile Geräte und neuerdings Tablets müssen Webseiten ausgerichtet werden. Die einzelnen Browserhersteller sollten sich endlich auf ein allgemein gültiges Format einigen und so den Webdesignern das Leben erleichtern.
W3C-Konform kann eine Webseite schon nicht mehr sein, wenn einige Werbebanner unmaskiert eingebunden werden. Das geht so schon mal nicht!