bit.infobrief Nr. 3 vom 09.10.2003
Liebe Kollegen,
in diesem Herbst ernten wir die Früchte eines heißen, aber dennoch außerordentlich fleißigen Sommers.
- 1. Barrierefreie Websites
- 2. Barrierefreies CMS
- 3. Wie testen?
- 4. Leichte Sprache
- 5. Veranstaltungsankündigungen
1. Barrierefreie Websites
Anscheinend ist der Bann gebrochen. Nachdem noch im Frühjahr fast alle Erfolgsmeldungen als Zeitungsenten entlarvt wurden, sind jetzt einige Websites erschienen, die wirklich die Auszeichnung "barrierefrei" verdienen. Noch besser: die Anbieter sind keine Insider, sondern ganz normale öffentliche Einrichtungen, so die Polizei von Nordrhein-Westfalen und die Evangelische Kirche. Sogar für Online-Banking gibt es ein barrierefreies Angebot.
Weitere gute Nachrichten lassen vermuten, dass jetzt an vielen Stellen das barrierefreie Internet gebaut wird. Der BIENE-Award für barrierefreie Webgestaltung hatte bei seinem Einsendeschluss am 1. September mehr als 170 Bewerber, Preisverleihung soll am 3. Dezember sein. Das Lehrbuch zum Barrierefreien Webdesign von Jan Eric Hellbusch wurde seit seinem Erscheinen im Jahr 2001 inzwischen 10.000 mal verkauft.
Bei der Fülle an Erfolgen müssen wir jetzt nicht mehr den guten Willen für die Tat gelten lassen. Wir können es uns erlauben, die nicht so gut gelungenen Versuche einer barrierefreien Gestaltung aufzudecken - wenn es denn dazu verhilft, aus Fehlern zu lernen.
- Die neue Portalseite der nordrhein-westfälischen Polizei zeigt, was an standardkonformer und behindertengerechter Gestaltung heute möglich ist. Die Entwicklung fand quasi-öffentlich in den Mailinglisten statt, und versammelt den guten Rat unserer führenden Experten.
http://www.polizei.nrw.de - Die Evangelische Kirche Deutschlands hat den Weg eines schrittweisen Abbaus von Barrieren gewählt. An dem planvollen Vorgehen kann man sich ein Beispiel nehmen, ebenso an der korrekten öffentlichen Bekanntgabe des erreichten Stands.
http://www.ekd.de/presse/397_pm126_2003_barrierefreiheit.html - Die NetBank AG hat ihr Barrierefreies Internetbanking mit der Unterstützung von blinden und sehbehinderten Experten entwickelt. Zum Service gehört auch, dass PIN und TAN in Brailledruck nach Hause geliefert werden. Einzige Einschränkung: die Sicherheitsroutinen verwenden JavaScript, so dass Lynx-User das Angebot nicht nutzen können.
http://www.netbank.de/NB/viewpage.php?page=barrierefrei - Nicht nachmachen! Hamburg Airport hat barrierefreie Seiten zum Thema "Behinderten-Service". Jedoch: Ein Blinder hat wenig Chance, den Link auf der überfüllten Homepage zu finden. Und: Die Seiten sind optisch völlig ungestaltet, so dass ein nicht blinder Nutzer keinen Überblick bekommt.
http://www.ham.airport.de/de/ba/index.html - Nicht nachmachen! Frank Audiodata, Produzent von Computerhilfen für Blinde und Sehbehinderte, ist mit seiner Website über das Ziel hinaus geschossen. Flackernde Animationen sollen Sehbehinderte auf die interessanten Menüpunkte aufmerksam machen. Jedoch: Normalsichtige bekommen davon Kopfschmerzen oder Schlimmeres - Bildschirmflackern ist bekannt als Auslöser für epileptische Anfälle.
http://www.audiodata.de - BIENE-Award ist ein Wettbewerb für barrierefreie Webgestaltung, ausgerichtet von der Aktion Mensch und der Stiftung Digitale Chancen.
http://www.biene-award.de/award/index.html - Jan Eric Hellbusch: "Barrierefreies Webdesign". KnowWare-Verlag, 2001 (ISBN 87-90785-75-4)
http://www.knowware.de/barrierefrei.htm
2. Barrierefreies CMS
Content Management Systeme (CMS) sind die unverzichtbare technische Basis großer Websites. In Bezug auf Barrierefreiheit sind sie leider in Verruf geraten. Gleich bei Erlass der BITV im Juli 2002 meldeten mehrere Hersteller: Mit einem CMS sei es kein Problem, quasi als Nebenprodukt eine Textversion auszuliefern und somit BITV-konform zu sein. Mit dieser Aussage wurde viel Verwirrung gestiftet, die heute noch anhält, darum sei es nochmals gesagt: Eine Textversion ist nicht barrierefrei im Sinne der BITV.
Es war also Skepsis angesagt, als im September 2003 ein großer deutscher CMS-Hersteller mit einem Seminar zum barrierefreien Internet durch die deutschen Städte tourte. In Hamburg waren mehrere der hier ansässigen Experten zugegen und stellten die Referenten auf den Prüfstand. Am Ende des Nachmittags war klar: sie können es wirklich, aber nicht automatisch.
RedDot präsentierte sein CMS glaubhaft als ein Tool, das dem kundigen Programmierer die Mittel an die Hand gibt, weitgehend barrierefreie Webseiten zu entwickeln. Es erfüllt die Mindestanforderungen,
- keine Verfahren für Templates (Bildschirmmasken) vorzu- schreiben, so dass der Programmierer nach bestem Wissen barrierefrei gestalten kann,
- den Einbau von Eingabehilfen zu erlauben, damit der Redakteur z.B. Alternativtexte nicht vergisst,
- bei der Generierung der Seiten unverfälschten, korrekten HTML-Code zu produzieren.
Obwohl hiermit viel erreicht ist, gab es auf dem Seminar auch enttäuschte Stimmen. Einige Zuhörer hatten sich von einem "barrierefreien CMS" mehr Unterstützung erhofft. So hatte es auch die Werbeaussage nahe gelegt, das System könne barrierefreie Seiten "wie eine Druckausgabe" als alternative Version erzeugen. Auf Befragen wurde deutlich: Für das barrierefreie Ergebnis ist hier allein der Programmierer der Website verantwortlich - das CMS hindert ihn nicht, gibt aber auch keinerlei Hilfestellung. Die Referenten nahmen die Idee mit nach Hause, einen Accessibility-Checker in das System zu integrieren.
- RedDot Solutions AG: "Barrierefreies Internet und Content Management Systeme"
http://www.reddot.de/news/event_docu_58373.html - AbI-Projekt: "Warum NUR-TEXT-Versionen als Alternative zum eigentlichen Angebot keine Lösung im Sinne der BITV sind"
http://www.wob11.de/alternativversionenkeineloesung.html
3. Wie testen?
A-Prompt, der kanadische Accessibility-Checker, ist jetzt in deutscher Übersetzung verfügbar. Das Programm kann kostenfrei von der Website des AbI-Projekts heruntergeladen werden. Damit steht erstmals ein deutschsprachiges Prüfprogramm für die BITV-Regeln zur Verfügung.
A-Prompt ist ein Werkzeug für Webdesigner, um Internetseiten auf Barrierefreiheit zu überprüfen und zu korrigieren. Es arbeitet interaktiv, präsentiert die vorgefundenen Mängel im Dialog und schlägt Schritt für Schritt eine Problembehandlung vor.
A-Prompt hat dieselben Grenzen wie alle automatischen Testtools. Es kann nur die technischen Merkmale abprüfen. Dabei denkt es nicht mit, kann nicht die Elemente im Zusammenhang beurteilen. Statt dessen legt es die technischen Regeln absolutistisch aus. Man braucht schon Geduld, wenn das Programm bei jedem einzelnen Image ab einer bestimmten Größe eine ausführliche Bildbeschreibung anmahnt, die nur in den seltensten Fällen wirklich nötig ist. Erfahrene Tester betonen daher, wie wichtig die Kenntnis des menschlichen Faktors bei der Beurteilung von Internetseiten ist.
Abhilfe erwarten wir von den Testverfahren, die bei den AbI-Partnern entwickelt werden und eine Anleitung für den menschlichen Tester liefern wollen. Dort wird momentan emsig gearbeitet, nichts dringt nach draußen. Vielleicht zu Weihnachten?
- AbI-Projekt: "Accessibility-Prompt - Hilfe für barrierefreies Webdesign"
http://www.wob11.de/apromptkomplett.html - Derek Parkinson: "Der menschliche Faktor"
http://www.digitale-chancen.de/content/stories/index.cfm/key.1177/secid.13/secid2.137 - dasselbe zum eMail-sicheren Anklicken
http://makeashorterlink.com/?P4D125726
4. Leichte Sprache
"Alles Wesentliche ist ganz einfach", lautet eine Lebensweisheit. Warum dieses Einfache so schwer zu sagen ist, erklären die Wissenschaftler in komplizierten Sätzen.
Einfache Sprache, oder "leichte Sprache", wie die Betroffenen sagen, gehört zu den Anforderungen der BITV. Einfache Sprache stellt sicher, dass alle Nutzer die Mitteilungen verstehen können. Es geht nicht nur um Menschen mit geistigen Behinderungen, sondern um eine Vielzahl von Zielgruppen: Gehörlose, Menschen mit begrenzter Bildung, sowie Einwanderer, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Leichte Sprache ist nützlich für jeden, der sich über ein unbekanntes Sachgebiet informieren will.
Die Regeln für einfache Sprache lernen die Journalisten in ihrer Ausbildung. Es gibt sogar Europäische Richtlinien für leichte Lesbarkeit. Dennoch ist es eher eine Kunst als eine Technik, und man darf gespannt sein, wie diese Richtlinie in einem Test auf BITV-Konformität abgeprüft werden wird.
Erfahrungsberichte und gute Beispiele liegen vor. In Ihrem Einführungsvortrag zur Sommer-Uni "Disability Studies in Deutschland: Behinderung neu denken!" sprach Prof. Dr. Theresia Degener über das Thema "Behindert ist man nicht, behindert wird man", und bemühte sich dabei um einfache Sprache. Ihr Resumé: "Es war eine interessante Denkaufgabe für mich und ich kann nur jedem und jeder empfehlen, es auch einmal zu versuchen."
- Europäische Richtlinien für die Erstellung von leicht lesbaren Informationen für Menschen mit geistiger Behinderung
http://www.inclusion-europe.org/documents/101.pdf - Theresia Degener: "Disability Studies in Deutschland"
http://www.sommeruni2003.de/dokumentation/eroeff_degener.html - Selbsthilfeverband: Netzwerk People First Deutschland e.V.
http://www.people1.de
5. Veranstaltungsankündigungen
- Der traditionelle Aktionstag der Blinden ist der 15. Oktober, der "Tag des weißen Stockes". In diesem Jahr gibt es in ganz Deutschland eine "Woche des Sehens". Die regionalen Blinden- und Sehbehindertenvereine veranstalten Aktionen zur Mediennutzung: "Lesen, Fernsehen, Surfen im Internet - Können Blinde auch!?" - Alle Termine stehen in einer überregionalen Website. Schauen Sie rein, vielleicht gibt es auch in Ihrer Nähe etwas zu sehen, hören, tasten.
http://www.woche-des-sehens.de/ - Die EVA 2003, jährliche Fachkonferenz für Elektronische Bildverarbeitung in Kunst, Kultur, Historie, hat in diesem Jahr mehrere Beiträge zur barrierefreien Mediengestaltung. )bit.informationsdesign beteiligt sich an der Ausstellung am 13. November 2003. Gezeigt werden die Techniken zur barrierefreien Gestaltung von Internetseiten und Multimedia. Ich würde mich freuen, Sie dort anzutreffen.
- Veranstaltung:
- EVA 2003
- Datum:
- 12.-14. November 2003
- Ort:
- Berlin, Kunstgewerbemuseum
- Veranstalter:
- GFaI und Staatliche Museen zu Berlin
- Kosten:
- ca. 50,- Euro/Tag
- Internet:
- http://www.eva-berlin.de
Soviel für heute.
Herzliche Grüße, und frohes Schaffen im kühlen Herbst.
Brigitte Bornemann-Jeske