Adieu Braille, welcome DAISY

Nach fast 40 Jahren wird die beliebte Brailleausgabe der Wochenzeitungen Stern und Zeit Mitte 2007 eingestellt. Dies gab der Verlag Gruner & Jahr zum Jahreswechsel bekannt. Als Ersatz will man eine Ausgabe im digitalen, barrierefreien Hörbuchformat DAISY prüfen. Ist das nun gut oder schlecht für die Blinden?

Die Stern/Zeit-Blindenzeitschrift besteht seit 1968 und ist die auflagenstärkste Braillezeitschrift im deutschsprachigen Raum. Beliebt ist die Zeitschrift nicht nur wegen der gelungenen Auswahl an Artikeln aus Stern und Zeit, sondern auch wegen des Anzeigenteils, der für die Blindenausgabe extra zusammengestellt wird. Die Zahl der Abonnenten ist aber in den letzten Jahren von anfangs 6.500 auf heute noch 2.000 gesunken. Jetzt will der Verlag Gruner & Jahr die erheblichen Produktionskosten nicht mehr tragen.

Die Blinden reagierten auf den Verlust wenig aufgeregt. Wohl hat der DBSV Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband einen Bittbrief an den Verlag geschrieben, man möge sich die Sache noch einmal überlegen, ein Hörbuch könne doch den Brailledruck nicht ersetzen. Bei BlIntUser, der Mailingliste der blinden Internetnutzer, erschienen aber schon die Nachrufe, und die fielen eher nostalgisch aus. Was geht wirklich verloren, wenn die Zeitschrift nicht mehr im Brailledruck ins Haus kommt, außer den Kilos an Papier, auf die man gerne verzichten würde? Tatsächlich doch einiges. Man bekommt die Schreibweise der Wörter nicht mehr so selbstverständlich mit, wahrscheinlich wird die Orthografie der Blinden leiden, wenn Braille immer mehr zurückgeht. Und dann geht auch ein sinnliches Erlebnis verloren, Braille lesen mit der ganzen Hand, das Buch auf den Knien, gemütlich im Sonnenschein im Garten. Können die Blinden ohne das leben? Die blinden Internetuser meinen: Ungern, aber es wird schon gehen.

Die Qualitäten von DAISY sind dagegen auch nicht zu verachten. Der internationale Standard für digitale Hörbücher stellt ein Ordnungssystem bereit, mit dem akustische Materialien übersichtlich präsentiert werden können. Dazu gehören Inhaltsverzeichnisse, Lesezeichen, seiten- und absatzweises Blättern, Suchfunktionen etc. Die volle Funktionalität ist natürlich nur dann gegeben, wenn auch der Text der Beiträge zur Verfügung steht. Das XML-basierte Format wird relativ einfach per Sprachausgabe aus der Druckvorstufe von Büchern und Zeitschriften erzeugt. Daneben gibt es originale Audiofiles, wenn schöne Literatur von professionellen Sprechern aufgesprochen wird, oder wenn Fachvorträge an der Uni von Studenten mitgeschnitten werden.

Die deutschen Blindenbibliotheken verwenden den DAISY-Standard seit 2003 und haben seither über 16.000 DAISY-Titel produziert. Im Januar kamen sie zum DAISY-Day in Leipzig zusammen, um ihr Know-How auszutauschen und Zukunftsvisionen zu schmieden. Der Traum ist natürlich “DAISY for All”, der DAISY-Standard als Basis für alle Hörbuchproduktionen, wovon dann nicht nur die Blinden, sondern z.B. auch die Autofahrer profitieren würden.

Und eine Druckfunktion für Braille-Kurzschrift wird die DAISY-Software vielleicht eines Tages auch noch bekommen. Damit die Blinden den Leitartikel der Zeit wieder unter die Finger nehmen können, und zwar gemütlich auf dem Sofa.

Referenzen

Eine Reaktion zu “Adieu Braille, welcome DAISY”

  1. Reinhard Greulich

    Schlecht, denn die “Prüfung” hat ergeben, dass für eine Daisy-Ausgabe nicht genügend Interessenten da sind. Damit stehen “Stern” und “Zeit” für Blinde nicht mehr barrierefrei zur Verfügung.

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