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Stellungnahme von Mitgliedern der Anwendergremien "Windowsanpassungen" bzw. "Braillezeilen"
Stellungnahme anläßlich der
Plenumssitzung der
Anwendergremien am 03.02.1997
(
Diskettenfassung, bereitgestellt vom
Autor)
In den vergangenen
Monaten traten erhebliche
Meinungsverschiedenheiten auf zwischen den
Projektdurchführenden des
Modellvorhabens
BITE und
Mitgliedern der Anwendergremien "
Windowsanpassungen" bzw. "
Braillezeilen". Diese
Differenzen führten schließlich zur
Aussetzung unserer
Mitarbeit.
Mit unserer heutigen erneuten Stellungnahme wollen wir in
Ergänzung zu unserem
Brief vom 20.01.97 noch einmal versuchen, unseren Standpunkt den Projektdurchführenden verständlich zu machen.
Zugleich wollen wir aber auch die Hintergründe unserer
Entscheidung all denjenigen verdeutlichen, die die bisherige
Diskussion nur anhand einiger kurzer - teilweise auch verkürzter - schriftlicher
Statements verfolgen konnten. Wir denken hierbei insbesondere an die
Mitglieder der anderen Anwendergremien, an die Mitglieder des
Beirats des
Modellversuchs, aber auch allgemein an die interessierte
Öffentlichkeit.
Einigkeit herrscht in Bezug auf die
Zielsetzung, "die
Qualität der
Hilfsmittelberatung zu verbessern und die
Anschaffungsentscheidung der
Betroffenen auf eine sachlich fundiertere
Grundlage zu stellen." (Stellungnahme der Projektdurchführenden vom 25.10.96)
In dieser Zielsetzung treffen sich die Interessen der
Kostenträger, die die
Arbeitsplatzausstattungen finanzieren, mit den Interessen der
Anwender, die dann mit dieser
Ausstattung arbeiten müssen.
Da der
Hilfsmittelmarkt in seiner Vielfalt und Komplexität selbst für
Fachleute kaum noch zu überblicken ist, müssen
Hilfen zur
Entscheidungsfindung erarbeitet werden. Dabei reicht es nicht aus, eine Vielzahl technischer
Daten und
Beurteilungskriterien zu sammeln und darzustellen, vielmehr ist darüber hinaus ein
Instrumentarium anzustreben, das geeignet ist, die
Fülle der
Fakten möglichst zu einer
Kaufentscheidung für EIN bestimmtes
Hilfsmittel zu verdichten.
Wir verkennen nicht, daß dieser
Zwang zur Entscheidung das
Bestreben nahelegt, eine
Bewertung und
Gewichtung der Fakten vorzunehmen. Diese kann aber nicht auf die
Beantwortung der
Frage abzielen "Welches Hilfsmittel ist allgemein das beste?", sondern ausschließlich auf die Frage "Welches Hilfsmittel ist für einen bestimmten Anwender in einer bestimmten
Arbeitsumgebung am besten geeignet?", d.h. es geht darum, "welches Hilfsmittel für den
Einzelfall besser geeignet ist." (
Projektantrag)
Wie kann dieses Instrumentarium aussehen?
Von Mitgliedern unseres
Anwendergremiums sind hierzu wiederholt
Vorschläge formuliert worden. Diese zielen darauf ab, die
Technik nicht unabhängig vom Anwender zu betrachten, sondern vielmehr diesen mit seinen individuellen Besonderheiten und in seiner speziellen
Arbeitssituation zum
Ausgangspunkt der
Überlegungen zu machen. Dies war offenbar auch ursprünglich im
Projekt so vorgesehen, denn im
Antragstext heißt es:
"Im
Rahmen des Modellvorhabens BITE sollen die wichtigsten
Produktgruppen der
Informationstechnik für
Behinderte nach ihrer
Eignung für verschiedene
Ausprägungen von
Behinderung, für verschiedene
Lernvoraussetzungen und
Arbeitsanforderungen untersucht werden."
Und an anderer Stelle heißt es:
"Die
Testvorhaben sollen mehrere
Anwendergruppen mit verschiedenen
Anforderungsprofilen einbeziehen."
Eine solche
Ausarbeitung verschiedener
Anforderungsprofile, die
Analyse und
Darstellung "verschiedener Ausprägungen von Behinderung" und "verschiedener Lernvoraussetzungen und Arbeitsanforderungen" ist aber bis heute - obwohl mehrfach von uns gefordert - nicht einmal im
Ansatz von den Projektdurchführenden vorgelegt worden. Stattdessen wurden detaillierte
Produkttests entwickelt. Es verwundert nicht, daß das
Design dieser
Tests keinerlei
Differenzierung im genannten Sinne erkennen läßt, denn wie sollen verschiedene Anforderungsprofile einbezogen werden können, wenn diese noch gar nicht erarbeitet wurden?
Wir stellen fest: Die bisher vorgelegten
Testverfahren werden der von der Sache her gebotenen, von uns stets geforderten und im Projektantrag postulierten
Einbeziehung der individuellen
Anwendersituation nicht gerecht.
Einen weiteren kritischen
Punkt in der bisherigen
Projektdurchführung sehen wir darin, daß nach wie vor
Unklarheit in dem zentralen Punkt herrscht, in welcher
Weise konkret die Bewertung und Gewichtung der gesammelten Daten und Fakten erfolgen soll. Hierzu war von den Projektdurchführenden zunächst die sogenannte Nutzwertanalyse als
Verfahren genannt worden. Im Projektantrag heißt es dazu:
"Charakteristische
Leistung der Nutzwertanalyse ist es, komplexe
Handlungsalternativen nach den
Präferenzen der
Entscheidungsträger zu ordnen. Hierbei werden hierarchische
Zielsysteme aufgestellt, die auf der untersten
Ebene operationalisierte, d.h. meßbare
Indikatoren für die
Zielerfüllung enthalten. Die
Meßwerte werden nach verschiedenen
Rechenverfahren verdichtet. Es ergeben sich vergleichbare numerische
Werte als
Ausdruck des Gesamtnutzens einer Alternative."
Es ist keine Frage, daß "meßbare Indikatoren für die Zielerfüllung" wünschenswert sind. Die eingehende
Bearbeitung und Diskussion der vorliegenden
Materie im
Anwendergremium hat jedoch gezeigt, daß solche Indikatoren nur in einem sehr beschränkten
Umfang fixiert werden können. So lassen sich zwar durchaus
Fragen formulieren, die darauf abzielen, ob eine bestimmte
Funktion von einem Hilfsmittel erfüllt wird oder nicht. Auch kann man z.B. objektiv messen, wie lange es dauert, bis eine
Braillezeile das wiedergibt, was auf dem
Bildschirm erscheint. Diese tatsächlich operationalisierbaren
Kriterien sind jedoch leider relativ selten bzw. besitzen in Bezug auf die
Gebrauchstauglichkeit und Effektivität eines
Hilfsmittels insgesamt eine eher untergeordnete Bedeutung.
Die Projektdurchführenden haben angesichts dieses
Mangels an tatsächlicher
Operationalisierbarkeit einen
Indikator eingeführt, der auf den ersten
Blick hilfreich erscheinen mag, bei näherer
Betrachtung jedoch völlig untauglich ist, nämlich die "
Anzahl der
Bedienschritte". In der
Anleitung zum
Produkttest "Windowsanpassungen" heißt es dazu:
"Anzahl der Bedienschritte: hiermit ist nicht der einzelne
Tastendruck gemeint, sondern eine '
Einheit von
Bedienaktion und
Kontrolle'. Zum
Beispiel zählt jede
Tastenkombination der
Anpassungssoftware oder der Braillezeile als ein
Bedienschritt."
Schon während der Diskussion im Anwendergremium hatten wird darauf hingewiesen, daß es äußerst problematisch ist, Bedienschritte als gleichwertige und damit vergleichbare
Einheiten eindeutig zu definieren. Genau dies wäre aber notwendig, wenn das bloße
Zählen dieser Einheiten irgendeinen praktischen
Aussagewert haben soll.
Dazu war folgendes Beispiel genannt worden: Bei einem bestimmten Hilfsmittel erfolgt die
Steuerung über den
Nummernblock. Da die
Hand des
Anwenders hierbei in der gleichen
Position bleiben kann, können diese
Kommandos in Form von
Ziffernfolgen sehr schnell hintereinander und treffsicher eingegeben werden. Eine Kontrolle nach jedem einzelnen
Kommando ist hier also dann nicht unbedingt erforderlich, wenn der Anwender sowohl die Bedienschritte als auch die dazu notwendigen
Ziffernkommandos auswendig kennt. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, daß die Effektivität dieser
Bedienstrategie unmittelbar zusammenhängt mit den kognitiven
Fähigkeiten des Anwenders (
Anwenderprofil) als auch mit der Frage, wie häufig die jeweilige
Befehlsfolge in seinem
Arbeitsbereich vorkommt (
Arbeitsplatzprofil).
Vor allem aber stellt sich die Frage: Was ist hier ein Bedienschritt im Sinne der obigen
Definition? Da eine eindeutige, operationalisierbare
Präzisierung dieses
Begriffs offenbar nicht möglich ist, wird stattdessen der beabsichtigte
Effekt als
Definitionsersatz genommen:
"
Ziel des
Zählens ist letztendlich nicht die absolute
Zahl der
Bedienungen, sondern der
Vergleich zwischen dem
Aufwand der Bedienungen verschiedener Anpassungssoftware."
Bis heute ist von den Projektdurchführenden nicht gesagt worden, wie die "verschiedenen Rechenverfahren" aussehen sollen, mit deren
Hilfe die "Meßwerte verdichtet" werden sollen, um schließlich zu "vergleichbaren numerischen
Werten als Ausdruck des Gesamtnutzens" zu gelangen.
In Bezug auf das
Problem der Gewichtung der verschiedenen Kriterien heißt es im Projektantrag:
"Der wesentliche
Schritt des
Verfahrens ist schließlich die Gewichtung der einzelnen
Zweige des
Zielsystems nach ihrer Bedeutung für die mit dem
Produkt zu erzielende
Arbeitseffektivität." ... "Die Gewichtung ist für die herausgearbeiteten typischen Anwendergruppen einzeln vorzunehmen. Es entsteht ein anwendungsspezifisch gewichtetes
System von
Anforderungskriterien an einen
Produkttyp als Grundlage (!) für das Testverfahren ebenso wie für die einzelfallbezogene Hilfsmittelberatung."
Richtig ist, daß die Gewichtung - wenn man sie denn vornehmen will - "ein wesentlicher Schritt des Verfahrens" ist. Um so unverständlicher ist es, daß auch hierzu noch keinerlei konkrete
Aussagen von den Projektdurchführenden gemacht wurden. Vollends unverständlich ist, daß andererseits schon Tests entwickelt wurden, obwohl ein "anwendungsspezifisch gewichtetes System von Anforderungskriterien" wiederum "als Grundlage für das Testverfahren" dienen sollte.
Es ist in der
Tat merkwürdig, daß hier viel
Zeit und
Arbeit in die
Formulierung von
Testaufgaben investiert wurde, ohne eine
Vorstellung davon zu haben, welchen Aussagewert die
Testergebnisse später haben sollen. Es liegt der
Verdacht nahe, daß der
Mangel an wirklich aussagekräftigen Indikatoren kompensiert werden soll durch das
Messen scheinbar objektiver
Größen wie der "Zahl der Bedienschritte", aber auch durch die
Anhäufung von Kriterien, die zwar objektiv meßbar sind (funktioniert - funktioniert nicht), die aber gar nicht so wichtig sind, was allerdings erst dann auffallen kann, wenn das
Gewichtungsverfahren offengelegt wird.
Zu den bisher vorgelegten Testfragen
Der bisher vorgelegte "
Prüfplan Produkttest zu den Windowsanpassungen für
Blinde" besteht aus gut 200 einzelnen Testaufgaben. In relativ kleinen
Bedienschritten wird darin eine bestimmte Art der
Windowsbedienung vorgegeben. Völlig unverständlich ist uns, warum hierbei überwiegend ausgerechnet die
Bedienung mit der
Maus gefordert wird, obwohl gerade diese Art der Bedienung für blinde Anwender besonders untypisch ist. Es wird so getestet, als hieße die
Fragestellung "Können Blinde unter
Windows genau so arbeiten wie
Sehende?" und nicht "
Inwieweit können Blinde unter Windows vergleichbare
Arbeitsergebnisse erzielen wie Sehende?"
Diese falsche
Zielrichtung der Fragen kommt auch im folgenden zum Ausdruck. Die
Vorgabe möglichst vieler kleiner Bedienschritte im
Test ist zwar vor dem Hintergrund verständlich, möglichst viele vergleichbare
Meßdaten gewinnen zu wollen. Sie ist aber hier der Sache insofern nicht angemessen, als die verschiedenen Hilfsmittel von ganz unterschiedlichen
Bedienstrategien ausgehen. Es kommt eben letztlich nicht darauf an, ob der Blinde ein typisches
Arbeitsziel auf eine ganz bestimmte vorgegebene Art und Weise erreichen kann, sondern darauf, ob er sie überhaupt - und zwar auf seine spezifische Weise - in vertretbarer Zeit und Qualität ausführen kann. Diese spezifische
Arbeitsweise kann aber von Hilfsmittel zu Hilfsmittel sehr unterschiedlich sein.
Wir Mitglieder des Anwendergremiums "Windowsanpassungen" haben die
Forderung erhoben, auf eine Bewertung und Gewichtung vollständig zu verzichten - nicht, weil wir diese für nicht wünschenswert halten, sondern, weil wir bis heute im Projekt kein seriöses Verfahren erkennen können, das zu einem der Sache angemessenen
Ergebnis führen könnte.
Diese
Einschätzung bedeutet keineswegs, das
Kernziel einer
Verbesserung der
Beratungsqualität durch
Entwicklung eines geeigneten
Instrumentariums aufgeben zu müssen. Wir haben hierzu bereits verschiedene Vorschläge gemacht an deren weiterer Ausarbeitung und Entwicklung wir uns gerne beteiligen würden. Wir lehnen jedoch jede weitere Mitarbeit ab, solange die angesprochenen Fragen ungeklärt bleiben. Insbesondere fordern wir:
1. Anwender- und
Arbeitsplatzprofile müssen erarbeitet und vorgelegt werden.
2. Falls die Projektdurchführenden weiterhin die
Absicht haben sollten, die
Produkte in irgendeiner Form zu bewerten und zu gewichten, dann müssen sie endlich offenlegen, wie sie dies konkret zu tun gedenken.
3. Produkttests werden erst dann durchgeführt, wenn geklärt ist, welchen Aussagewert sie haben sollen.
4. Für die vorangegangenen
Punkte wird ein verbindlicher
Zeitplan aufgestellt.
5. So lange die offenen Fragen nicht geklärt sind, distanzieren wir uns ausdrücklich von dem Projekt und verwahren uns dagegen, in schriftlichen oder mündlichen
Veröffentlichungen des
Projekts als
Mitwirkende oder gar
Mitverantwortliche genannt zu werden.
Gerd
Heimann -
Handelsschule für Blinde und
Sehbehinderte, Hamburg
Richard
Heuer gen.
Hallmann -
FernUniversität
Hagen /
ISCB /
FIT
Ulrich
Kalina -
Deutsche
Blindenstudienanstalt,
Marburg
Werner
Krauße -
Berufsförderungswerk,
Veitshöchheim / FIT
Heinz
Pinell -
Finanzverwaltung
NRW,
Düsseldorf / FIT
Rüdiger
Leidner -
Bundeswirtschaftsministerium,
Berlin
Rolf
Zacharias -
Landesverwaltungsamt, Hamburg
Rüdiger Leidner: Computerhilfen für Blinde und Sehbehinderte sinnvoll testen.
Heinz Pinell: Anschreiben vom 27.02.1997
Erstellt: 10.08.1998 13:31 Aktualisiert: 14.12.1998 21:48
Autor: Brigitte Bornemann-Jeske et al.
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Modellversuch im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung