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Rüdiger Leidner: Computerhilfen für Blinde und Sehbehinderte sinnvoll testen.
Vorschläge für einen praxisgerechten
Kriterienkatalog, in:
Sozialrecht +
Praxis
Nr. 9/1996, S. 601-604
(
Diskettenfassung, bereitgestellt vom
Autor)
Sozialrecht + Praxis 9/96,
Rehabilitation, Seite 601-604
Computerhilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte sinnvoll testen
Vorschläge für einen praxisgerechten Kriterienkatalog
Jeder, der nicht nur einmal einen
Computer gekauft hat, sondern später auch
Zubehör oder neue
Programme, weiß, wie vielfältig das
Angebot beim
Kauf ist und wie groß die
Probleme anschließend sein können, wenn einiges nicht zueinander paßt. Noch mehr gilt dies, wenn der Computer nicht zu
Hause steht, sondern am
Arbeitsplatz in die
Büroumgebung integriert werden soll. Es wird sich daher niemand, der auch nur etwas
Erfahrung auf diesem
Gebiet gewonnen (bzw. erlitten) hat, wundern, wenn ich ohne weitere
Erläuterung einfach behaupte, daß Computer, an die außerdem noch spezielle
Ausgabesysteme für blinde und sehbehinderte
Anwender (
Sprachausgaben,
Braille-
Zeilen, Großschriftbildschirme) angeschlossen sind, natürlich noch viel mehr Probleme mit sich bringen können. Hinzu kommt, daß der Anwender in diesem speziellen Fall oft gar nicht weiß, ob er ein bestimmtes
Programm, das er ohne diese
Hilfsmittel schließlich gar nicht beurteilen kann, tatsächlich braucht, im notwendigen
Umfang bedienen kann oder welches der angebotenen Hilfsmittel das beste ist. Auf die
Beratung der
Verkäufer kann man sich in vielen
Fällen ebenso wenig verlassen wie auf individuelle
Erfahrungsberichte, da die
Bedingungen oft nicht vergleichbar sind.
Da die
Computerwelt immer vielfältiger und komplizierter wurde, hatte ich vor mehr als zwei
Jahren im Zusammenhang mit der
Entwicklung neuer
Lösungsansätze zur Nutzung von
MS-
Windows durch blinde und sehbehinderte Anwender damit begonnen,
Beurteilungskriterien zu entwickeln. Diese
Kriterien, die erstmals auf einer
Podiumsdiskussion in
Hamburg vorgestellt wurden (Sozialrecht + Praxis 1/95) und inzwischen wiederholt mit
Betroffenen,
Hilfsmittelfirmen und auch anderen in diesem
Bereich
Tätigen diskutiert wurden (Sozialrecht + Praxis 12/95) sollten
Anhaltspunkte geben, worauf bei einem Kauf zu achten ist, und den
Anwendern helfen, sich selbst eine
Meinung zu bilden. Da sich gerade die neuen Programme zur Nutzung von MS-Windows immer noch in der
Entwicklungsphase befinden und bei manchen
Produkten beinahe in monatlichem
Abstand neue
Versionen erscheinen, habe ich damals bewußt darauf verzichtet, eine
Rangfolge unter den verschiedenen Produkten aufzustellen.
Neues Modellprojekt in Hamburg
Mit finanzieller Unterstützung des
Bundesministeriums für
Arbeit und
Sozialordnung (
BMA) wurde dieser
Gedanke von einer
Hamburger
Einrichtung (
Behinderten
Informationstechnik
Test- und
Dienstleistungs-
GmbH) offenbar aufgegriffen. Im
Rahmen eines insgesamt dreijährigen
Projekts sollen Kriterien zur
Beurteilung verschiedener für Blinde und Sehbehinderte wichtiger Computerhilfsmittel aufgestellt und die Hilfsmittel anhand dieser Kriterien und standardisierter
Testaufgaben geprüft werden. Offensichtlich verfolgt das BMA als
Finanzier dieses
Modellvorhabens neben dieser im
Grundsatz begrüßenswerten
Idee darüber hinaus aber auch das
Ziel, gleichzeitig eine
Rangskala erstellen zu lassen, die den
Kostenträgern die
Entscheidungen vereinfachen soll. Wegen der Schnellebigkeit der Entwicklung gerade im
Software-Bereich besteht hierdurch aber die
Gefahr, daß diese
Bewertungsskala bereits überholt ist, bevor sie gedruckt werden kann. Damit würde sie als
Entscheidungsgrundlage sowohl für
Kostenträger als auch für die Betroffenen nicht nur wertlos, es entstünde sogar die Gefahr, daß Entscheidungen aufgrund völlig überholter
Beurteilungen fallen. Da zudem zu erwarten ist, daß
Firmen, die bei der
Bewertung einen schlechteren
Platz erhalten haben, versuchen werden, nicht nur durch technische
Verbesserungen die Bewertung ad absurdum zu führen, sondern sich auch auf andere
Weise dagegen zu wehren, wird die
Entscheidungssituation für die Kostenträger vermutlich nicht einfacher, sondern möglicherweise komplizierter.
Natürlich ist das Interesse gerechtfertigt, die Entscheidungssituation auch der Kostenträger zu vereinfachen. Wenn aber die
Erstellung von Kriterien bzw.
Checklisten, die keine zeitpunktbezogene Bewertung vornehmen und die im konkreten Fall zu treffende
Entscheidung offenlassen, für unzureichend gehalten wird, sollte über andere Lösungsansätze als eine einmalig erstellte Rangskala nachgedacht werden. Denn wenn dieses personell und finanziell aufwendige
Modellvorhaben dazu führen würde, daß eine Rangskala entsteht, die schon nach kurzer
Zeit wertlos oder sogar kontraproduktiv wird, dann handelt es sich bei der
Finanzierung des Projekts im wahrsten Sinne des
Wortes um einen verlorenen
Zuschuß.
Daß es zweckmäßig ist, einen Kriterienkatalog zu erstellen, der für alle
Beteiligten die Entscheidungssituation transparent macht, scheint unstrittig zu sein. Schließlich geht es in nicht wenigen Fällen um
Ausgaben von mehr als 50 000
DM pro Arbeitsplatz.
Bedenken hinsichtlich seiner
Verwendbarkeit durch Kostenträger sind wohl darauf zurückzuführen, daß ein reiner Kriterienkatalog für eine Entscheidung am
Schreibtisch nicht ausreicht. Bei
Anwendung einer einmal erstellten, mehr oder weniger pauschalierenden Bewertungsskala besteht für die vor
Ort mit den
Hilfsmitteln
Konfrontierten die Gefahr, daß entschieden wird und weder aktuelle
Informationen noch individuelle
Anforderungen berücksichtigt werden.
Doch es gibt für diesen Interessengegensatz durchaus eine
Lösung, die die allgemein erwünschte
Erhöhung der
Transparenz im
Hilfsmittelbereich erreicht, ohne die
Information auf einen bestimmten
Zeitpunkt zu fixieren.
Sieht man einmal davon ab, daß die
Projektorganisatoren möglicherweise auch noch eigene Interessen verfolgen könnten, so sind bei abstrakter
Betrachtung folgende Probleme zu lösen:
- Die Mitarbeiter der Kostenträger sollen transparente und möglichst standardisierte Entscheidungsgrundlagen erhalten, die sowohl die Anforderungen des Antragstellers nicht nur aus seiner subjektiven Sicht darstellen (da diese dann erst wieder hinterfragt werden müßte), sondern auch einen schnellen und einfachen Vergleich der verschiedenen Angebote ermöglichen.
- Die Antragsteller selbst sowie die Arbeitgeber und mit Fortbildungsmaßnahmen befaßten Einrichtungen möchten hingegen sicherstellen, daß die getroffene Entscheidung aufgrund aktueller Informationen erfolgt und auch die Anforderungen am Arbeitsplatz und individuelle Besonderheiten berücksichtigt.
Für all diese
Überlegungen ließe sich aber auch im Rahmen des jetzt begonnenen Modellvorhabens eine Lösung finden, die diesem
Projekt tatsächlich modellierenden, nämlich zukunftsweisenden
Charakter geben würden. Dazu müßten die
Projektziele modifiziert und erweitert und das gesamte
Vorgehen auf
Operabilität und
Praxisbezug ausgerichtet werden. Letzteres liegt auch im wohlverstandenen Interesse des
Bundesarbeitsministeriums.
Um die bisher unüberbrückbaren
Gegensätze zu überwinden und um die bereitgestellten öffentlichen
Mittel wirtschaftlich zu verwenden, müßte das Projekt folgendermaßen aufgebaut werden:
- Wie in der bisherigen Planung erstellen die Projektorganisatoren zusammen mit dem Anwendergremium einen Kriterienkatalog. Bei der Formulierung der Kriterien wird aber darauf geachtet, daß sie später nicht nur Grundlage von Tests sein sollen, sondern auch als Fragebogen verwendet werden können, um standardisierter Vergleichsangebote einzuholen.
- Im Rahmen der Tests wird dieser Kriterienkatalog auf seine Verwendbarkeit geprüft, und zwar sowohl hinsichtlich des Vergleichs verschiedener Hilfsmittel als auch hinsichtlich der Vergleichbarkeit damit eingeholter Angebote.
- Soweit notwendig, wird der Kriterienkatalog/Fragebogen aufgrund der in den Tests gewonnenen Erfahrungen an die Erfordernisse der Praxis angepaßt.
- Es wird ein Schema zur Beschreibung individueller Arbeitsplatzsituationen entwickelt.
- Die Kostenträger legen nach Vorlage der Projektergebnisse gemeinsam und damit bundesweit fest, daß künftig bei Anträgen auf technische Arbeitsplatzausstattungen sowohl ein (von Arbeitgeber und Antragsteller auszufüllendes) Aufgabenprofil als auch die (von den Anbietern auszufüllenden) Fragebögen über die Leistungsfähigkeit der vorgeschlagenen Hilfsmittel beizufügen sind.
Dieses
Verfahren liefert den
Entscheidungsträgern nicht nur standardisierte und damit leicht vergleichbare Informationen, sondern löst vor allem auch das
Aktualitätsproblem. Denn der Fragebogen muß für jeden
Antrag ausgefüllt werden. Für die anbietenden Firmen ist damit trotzdem kein erheblicher
Mehraufwand verbunden, denn - sieht man von der ersten Erstellung einmal ab - kann der Fragebogen zumindest teilweise mehrfach verwendet werden, wenn in kurzer Zeit Angebote über dieselben Hilfsmitteln bei verschiedenen Kostenträgern einzureichen sind.
Ergänzend sei darauf hingewiesen, daß der
Bundesminister des Innern in seinen Unterlagen für
Ausschreibung und Bewertung von
EDV-Geräten ebenfalls standardisierte Verfahren vorschlägt und sogar zusammen mit den
Herstellerverbänden standardisierte
Kaufverträge erarbeitet hat. Das zeigt, daß dieser Weg nicht nur grundsätzlich, sondern auch zusammen mit den
Verkäufern möglich ist. Meines
Erachtens ist bei den am Projekt beteiligten Anwendern genügend
Sachkompetenz vorhanden, um im Rahmen des Modellvorhabens auch einen geeigneten
Musterkaufvertrag zu erarbeiten.
Neben der Lösung des
Aktualitätsproblems bietet dieses Verfahren aber auch den unschätzbaren zusätzlichen
Vorteil, daß den Kostenträgern nun nicht mehr vorgehalten werden kann, sie würden überholte
Testergebnisse und
Rangskalen verwenden. Die
Anbieter müssen die Richtigkeit der
Angaben selbst verantworten, die außerdem noch
Bestanteil des
Angebots und somit
Vertragsbestandteil werden.
Ich habe, nachdem ich in den vergangenen Jahren selbst an der Erstellung derartiger Beurteilungskriterien gearbeitet habe, bei von mir kürzlich eingeholten
Vergleichsangeboten eben dieses Verfahren angewandt und die Kriterien in
Fragen an die Anbieter umgewandelt. Dies war nicht nur ein Praxistest für die Kriterien, sondern auch für das Verfahren selbst. Zum einen hat sich gezeigt, daß ein Praxistest solcher Kriterien wichtig ist, es hat sich aber auch gezeigt, daß die Angebote nicht nur leichter vergleichbar sind, sondern daß der potentielle
Kunde auch sehr viel mehr Informationen erhält als ohne diese
Standardisierung. Neben den zusätzlichen Angaben war aber vor allem auch zu erkennen, wie gründlich das Angebot bearbeitet wurde. Da es sich zum Teil um identische
Komponenten handelte, können unterschiedliche bzw. angeblich nicht verfügbare technische Angaben zu derselben
Komponente nur mit dem "
Faktor
Mensch" (diesmal aber nicht beim Anwender, sondern beim Anbieter) erklärt werden.
Finanzen sinnvoll einsetzen
Wie bei den meisten öffentlich geförderten
Projekten dieser
Größenordnung dürfte es auch bei diesem Modellvorhaben einen
Projektbeirat geben, in dem der
Geldgeber vertreten ist. Es bleibt zu hoffen, daß bei der nächsten
Sitzung dieses
Beirats die für die
Verwendung der öffentlichen Mittel Verantwortlichen ihre
Haltung nochmals daraufhin prüfen, ob es vor allem angesichts der öffentlichen
Spardiskussion zu verantworten ist, daß ein Projekt mit
Auflagen versehen wird, die dazu führen müssen, daß die
Ergebnisse des Projekts schon nach kurzer Zeit überholt sind. Mit dem bisherigen Vorgehen provoziert man entweder
Wiederholungsanträge - schließlich haben alle ein berechtigtes Interesse an aktueller Information - oder man weiß jetzt schon, daß man nach
Abschluß des Projekts das
Geld hat, das jetzige Modellvorhaben in eine
Dauereinrichtung umzuwandeln. Wenn beides nicht der Fall ist, sollten die Bedenken der in diesem Projekt mitwirkenden Anwender ernst genommen und die hier skizzierten
Lösungsmöglichkeiten berücksichtigt und diskutiert werden.
Kommentare
Stellungnahme von Mitgliedern der Anwendergremien "Windowsanpassungen" bzw. "Braillezeilen"
Erstellt: 10.08.1998 13:31 Aktualisiert: 14.12.1998 21:48
Autor: Brigitte Bornemann-Jeske et al.
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Modellversuch im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung